Alex beschreitet als Label-Chef und Verleger hinter Bleeding Heart Nihilist neue Wege zwischen extremer Musik und Lyrik. Warum er bewusst den kreativen Leidensweg seiner Künstlerinnen und Künstler begleiten will, erzählt er im verschollenen Interview.
Es ist passiert: Die Sache, von der ich hoffte, dass sie nie eintreten würde. Nachdem ich circa zwei Stunden mit Alex von Bleeding Heart Nihilist Productions in der Zukunft am Ostkreuz gesessen und über seine Projekte gesprochen hatte, kackt meine Speicherkarte ab. Das Interview in seiner aufgezeichneten Form ist dahin und ich habe keine gesprochenen Zitate, die ich verwenden kann.
Zum Glück habe ich meine Erinnerungen an den Abend und ein paar Notizen. Alex bleibt entspannt, als ich ihm davon erzähle. Dass etwas schiefgeht, passiert ihm nicht zum ersten Mal.
Nihilist aus Leidenschaft
Alex fällt auf als großer Typ mit Backenbart und blondierten halblangen Haaren. Wenn er dazu noch mit Corpsepaint, Nietenarmband und Skinny Jeans auf der Bühne steht und martialischen Black Metal macht, kann man sich schon fragen, ob er im Gespräch überhaupt etwas von sich preisgibt.

Sunshine & Lollipops | © Cacophonia Photography
Glücklicherweise ist er aber gesprächig und antwortet mit Ruhe und einer Art gelassenem Zynismus: „Wie kam es zur Labelgründung?“, frage ich ihn. Nachdem Alex einige Jahre in Berlin als Bassist unterwegs ist, wird seiner damaligen Heavy-Rock-Band The Razorquillz 2009 ein Plattendeal angeboten. Was für eine Errungenschaft als Band! Alles scheint glattzulaufen, die Platte soll mit einer Tour komplettiert werden und es winkt ein Stück Erfolg – der Traum eines jeden Musikers und jeder Musikerin. Leider kommt es dann nicht so, wie sich The Razorquillz ihre Zukunft erhofft haben. Das Label kümmert sich nicht wirklich um die junge Band. Von der Bookingagentur begraben, leiden Touren und Verkäufe. Der Unmut entlädt sich im Privaten.
Irgendwann beschließt Alex aus dieser frustrierenden Hilflosigkeit heraus, dass er die Betreuung der Band mindestens genauso gut hinkriegen würde – wenn nicht besser. Immerhin bedeuten ihm seine Mitmusikerin und -musiker etwas. Und er hatte bereits Mitte der 1990er seine ersten Erfahrungen im Netzwerken mit dem Tape Trading gesammelt. Damit hatte er sich und seine Kumpel damals mit frischem Black Metal versorgt, Darkthrone, Impaled Nazarene und Co.
Er will die Betreuung durch ein Label anders gestalten, als er es selbst erfahren hat. Die Bands, die er in sein Roster aufnimmt, will er nicht nur für eine einzige Veröffentlichung oder für ein Format betreuen, sondern ganzheitlich. Alex will das unterstützen, was ihre Vorstellung von Kunst und Musik ausmacht: auch mal radikale Wege zu gehen und nicht dasselbe durchgekaute, gleichförmige Stück immer und immer wieder zu wiederholen. Also macht er über befreundete Bands und Kontakte diejenigen auf sein Label aufmerksam, die etwas Besonderes aufziehen wollen, fernab von Trends und Gefallen. Sie sollen bei ihm unterkommen können und durch ihn veröffentlicht werden.
Als „bleeding heart nihilist“, also als jemand, der Konventionen leidenschaftlich ablehnt, will Alex etwas Gutes tun. Irgendwie paradox und dann doch wieder passend, wenn man ihn so darüber sprechen hört. Und so gründet er 2013 sein Berliner Untergrund-Label und veröffentlicht als eine der ersten Platten „II“ von The Razorquillz. Damit ist das Statement klar gesetzt: Wir kriegen das auch selbst hin. Die andere, eigentlich erste Platte ist von Sunshine and Lollipops, seiner Black-Metal-Band, die inspiriert vom „Fuck-off“-Flair der frühen Neunziger Jahre ist. Sunshine and Lollipops feiert den ursprünglichen Spirit dieses Genres, scheißt aber auf dessen abgegriffene Klischees.
Außerhalb der Genregrenzen
Nach nun mehr sechs Jahren Labelgeschichte und 17 eigenen Veröffentlichungen hat Bleeding Heart Nihilist ein gewisses Standing als Label für Black Metal. Aber Alex weist darauf hin, dass es ihm darum ginge, Bands zu fördern, die Bock haben, ihren eigenen Weg zu gehen, die für ihr Projekt brennen und die auf enge Genregrenzen nichts geben. Gemeinsam etwas aufzubauen, die gleiche Energie für das Projekt mitzubringen und auf einer Wellenlänge zu sein, seien für ihn Grundlagen der Zusammenarbeit mit einer Band. Dafür muss die Band keinen Black Metal machen. Daher finden sich neben der erwähnten Heavy-Rock-Band auch Thrash- und Doom-Bands im Roster des Mitte Dreißigjährigen Label-Chefs aus Berlin-Wilmersdorf, z. B. Fallen Tyrant oder Fvneral Fvkk.
„Für mich ist es eine Herzensache. Ich kann den Leidensweg gut nachvollziehen, den viele Bands und Künstlerinnen und Künstler durchmachen. Denn allein funktioniert’s oft nicht. Und dann ist man froh, wenn einem jemand hilft und man sich gemeinsam an die Arbeit macht. Ich kann einfach nachempfinden, wie es ist. Immerhin habe ich diese Erfahrung selbst oft genug gemacht. Natürlich ist es für mich auch eine Form der Bestätigung, wenn ich eine gute Band unter Vertrag habe, die Erfolg hat und die ich weiterentwickeln kann. Da bin ich auch egoistisch. Aber ich möchte gern anderen die Möglichkeit geben, sich auszuprobieren und ihre Idee voranzubringen“, so Alex im Gespräch. Vielleicht auch nur so ähnlich, wer weiß das schon. Aber der Inhalt, der transportiert werden soll, ist klar: keine halbherzigen Sachen – keine Gefallen für niemanden.
„Im Chaos nistet die Kunst“
Bevor er sein eigener Label-Chef wird, arbeitet Alex unter anderem im Bergwerk im Saarland und studiert ab 2006 Amerikanistik in Berlin. Er kennt daher sowohl das Dunkle als auch das Helle der menschlichen Seele. Aus diesem Spannungsverhältnis heraus wirkt es dann auch nicht abwegig, dass er sich neben brachialer, extremer Musik mit gleichen Enthusiasmus den leiseren Künsten widmet. Jenen, die noch mehr Interpretationsspielraum lassen, die noch weniger fassbar sind. Kurz, er gründet 2014 zusätzlich einen Verlag: BHN Books.
Es erscheinen unterschiedlichste Publikationen unter dem Dach des Verlags. Auch hier scheint der Gitarrist und Sänger keinen besonderen Wert auf einen vorhersehbaren Weg von Veröffentlichung zu Veröffentlichung zu legen. Es erscheint unter anderem ein Gedichtband von FatimaDjamila mit dem Titel „Im Fegefeuer der Nichtigkeiten“, ein Essay/Reisebuch über Marokko von Didier Hinz und der Comicband „Scheitern in voller Rüstung“ von Angelo Donnermann, dem Schlagzeuger von 100000 Tonnen Kruppstahl.

©BHN Books
Aber auch eine Art literarisches Fanzine gibt Alex erstmals 2017 heraus. Darin veröffentlichen die Künstler Clint Lukas, Gaston Latz, Benjamin Hiller und Karl Cointreaux auf Deutsch und Englisch Gedichte und Prosa.
Bei der Frage, ob er sich vorstellen kann, sich in weiteren künstlerischen Darstellungsformen auszuprobieren, zögert Alex etwas. So könne er sich vorstellen, Filme im Zusammenhang mit Musik zu produzieren, also etwa Musikvideos. Oder vielleicht mal ein Theaterstück umzusetzen. Aber konkrete Pläne hat er derzeit nicht. Nur einen zweiten Band seines Literaturmagazins für Untergrundstorys und -gedichte möchte er auf jeden Fall realisieren. „Und dieses Mal sollen auch ein paar mehr Frauen und Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen vertreten sein. Mir ist bewusst, dass es in der ersten Ausgabe schon sehr einseitig war. Aber ich bin ehrlich, ich mag Sachen, die wie Bukowski klingen. Und daher fiel es mir leicht, diese Sachen in den Band aufzunehmen“, reflektiert Alex.

© Didier Hinz
Warum das alles?
Warum tut man sich das an? Wendet viel Energie, viele Nerven und vor allen Dingen Geld auf, um anderen Künstlerinnen und Künstlern eine Plattform zu bieten? Ich meine, klar, am Anfang will man sein eigener Boss sein, seine eigene Musik rausbringen. Dann will man seine Freundinnen und Freunde unterstützen. Menschen, an die man glaubt. Aber dann? „Allein funktioniert’s eben nicht“, so Alex‘ schlichte Begründung. Also hilft er anderen dabei, die ihre Kunst nach außen tragen möchten.
Klar, kann man alles selbst und ohne fremde Hilfe versuchen. Aber das ist unglaublich anstrengend und oft nicht so befriedigend, wie man es sich vielleicht vorab erhofft hat. Das hat er selbst durchgemacht und seine Erfahrungen gesammelt. Deswegen will er Bands die Unterstützung bieten, die sie brauchen, um ihre Vision wirklich umsetzen zu können. Und da ist sie dann doch, die Empathie im Nihilismus. Er kann mit Bleeding Heart Nihilist natürlich nicht den Plattendeal mit garantierten traumhaften Absatzzahlen auf dem Silbertablett servieren. Die große Tournee und die Veröffentlichungen auf den tollsten Plattformen und Musikdiensten sind auch nicht sein Ziel. Auch weil er Spotify und Co. bewusst nicht unterstützen möchte. Aber es ist seine feste Überzeugung, eine Band auf ihrem Weg zu begleiten, wenn sie bereit ist, ihren Teil zum Projekt beizutragen. Wenn sie an sich selbst glaubt und sich nicht verbiegen lässt, nur weil jemand mal ein schlechtes Wort über sie sagt. Die Energie und das Persönliche müssen stimmen.
Absolutes Gehör
Ein weiterer Grund für seinen unkonventionellen Werdegang als Underground-Label-Macher und Buch-Verleger dürfte auch sein, dass ein „klassischer“ Weg für Alex bislang nie funktioniert hat. In zweierlei Hinsicht: Als Jugendlicher im Saarland hat er keinen Antrieb, weiß nicht, was er werden will, probiert die verschiedensten Jobs aus, scheitert. Auch das Studium, das er in den 2000er Jahren in Berlin aufnimmt, führt er nicht zu Ende. Nichts scheint zu passen.
Sein Elternhaus besteht jedoch aus hochmusikalischen Menschen. Seine Großeltern sind Kirchenmusiker und seine Mutter hat ein absolutes Gehör. Als sie irgendwann mitbekommen, dass ihr Teenagerenkel Black Metal hört, bitten sie ihn, diese menschenverachtende Musik vorzuspielen. Alex ist zwar damals aufgeregt, muss aber heute noch lachen, wenn er daran zurückdenkt, wie wenig beeindruckt die Profis in der Familie von seiner bösen Lieblingsmusik sind.
Die tiefsitzende Musikalität in seiner Familie geht sogar soweit, dass Alex‘ Mutter ihr absolutes Gehör nutzt, um ihrem Sohn die Noten von Darkthrones „Transilvanian Hunger“ aufzuschreiben, da es dafür zum Erscheinungszeitpunkt natürlich keine Notenbücher gibt. So kann Alex die Songs auf Gitarre nachspielen und sein Interesse für Black Metal festigt sich. Diese leidenschaftliche Unterstützung bei wie auch immer gearteten musikalischen Auswüchsen scheint er übernommen zu haben.

Live The Razorquillz 2010 | ©privat
„Drecksack“
Ich frage Alex zum Abschluss unseres Gesprächs nach seinen Berliner Lieblingslocations – Trinkteufel, Cortina Bob und Zukunft am Ostkreuz – und nach den ewig währenden bzw. den aktuellen Lieblingsbands aus Berlin – Die Ärzte oder Essenz. Da Geschriebenes ebenfalls sein Metier ist, frage ich dieses Mal zusätzlich nach einer lokalen Literatin bzw. einem lokalen Literaten, den er empfehlen kann. Seine Antwort kommt ohne Verzögerung: Florian Günther. Der ehemalige Sänger einer Punkband verlegt selbst ein vierteljährlich erscheinendes Magazin, den „Drecksack“, in dem sich allerlei Untergrund- und, man könnte sagen, Schund-Literatur versammelt. Er liest häufig im „Zum Goldenen Hahn“, einer Kneipe in Berlin-Kreuzberg, die nicht schick und hip ist. Dafür aber voller Gestalten, die gut als Vorlage für den nächsten Text dienen können. Als schaffenden Künstler, den er empfehlen möchte, nennt Alex schließlich noch Ernst Morsch, der unter anderem für die Crustband Nocturnal Scum das Cover der neuen EP gestaltete.
Passend zu den lokalen Empfehlungen kann sich Alex dann noch zu einem Loblied auf die Berliner Szene hinreißen lassen: „Berlin ist viel freier und enthusiastischer als andere Städte, in denen ich gelebt habe. In Saarbrücken gab’s einfach nichts. Ich finde, dafür gibt es zu wenig Wertschätzung innerhalb der Berliner Szene. Die Szene ist divers, man kann sich ausprobieren und findet immer jemanden, der einen unterstützt. Es herrschen geradezu paradiesische Zustände.“
Es gab in der Vergangenheit Phasen, da ekelt ihn die Szene und das ganze Gehabe an. Da lässt er sich für mehrere Jahre nirgendwo blicken und hört keinen Black Metal. Alex scheint jedoch schließlich zurückgekehrt zu sein, um dem Black Metal und anderen Genres, die dazu neigen, zu true zu sein, zu zeigen, wo der Punk ist. Dass es keiner Grenzen bedarf, weder in den Köpfen noch im Auftreten und erst recht nicht solche, die man sich gegenseitig auferlegt. Diese Einstellung scheint ihn schon in seinem Elternhaus geprägt zu haben und sie zieht sich bis heute durch. Bleibt zu wünschen, dass er weiter mit Leidenschaft dabeibleibt.
Bleeding Heart Nihilist Productions: http://www.bleedingheartnihilist.de/music/en/blog/news-music
FB-Seite Bleeding Heart Nihilist: https://www.facebook.com/bleedingheartnihilist/
BHN Books: https://www.facebook.com/BHNbooks
Sunshine & Lollipops: https://sunshineandlollipops.bandcamp.com/
Titelbild: ©Nikolai Nivera